Der statistische Mittelwert spiegelt nicht die Realität wider. Der Grund dafür liegt in der Wahrscheinlichkeit: Der Durchschnittswert wird aus einer Vielzahl von Einzelwerten gebildet, die meist erheblich voneinander abweichen. Die mathematische Wahrscheinlichkeit, dass ein Einzelwert den Durchschnittswert trifft, ist äusserst gering. Es besteht zwar eine geringe Wahrscheinlichkeit, aber selbst wenn, würden sich diser oder diese Werte immer in einer extremen Minderheit befinden.

Ein wenig überspitzt formuliert ist die Normalität eigentlich der Extremfall und die Abweichung die Normalität.

Es stellt sich daher die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich bei Bewertungen oder Entscheidungen auf Mittelwerte zu beziehen. Wäre es nicht angebrachter, särker auf die Abweichungen zu fokussieren, da sie schliesslich die Mehrheit bilden?

Praktische Anwendung im UX- und UI-Design

Übertragen auf das UX/UI Design bedeutet dieses Prinzip, dass es keinen „durchschnittlichen" oder „normalen" Benutzer gibt, sondern nur Nutzer, die entweder nach unten oder nach oben abweichen.

Daher sollte man immer die verschiedenen (möglicherweise extrem unterschiedlichen) Verhaltensweisen und Bedürfnisse der Nutzer berücksichtigen, nicht nur die des Durchschnitts. Ein Design ist daher nur «inklusiv» und «universell» wenn es flexibel genug ist, um ein breites Spektrum an Nutzerbedürfnissen abzudecken.

Neurodiversität

Auch im Kontext der Neurowissenschaften ist eine Orientierung an der Mitte nicht zielführend. Die natürlichen Unterschiede im menschlichen Gehirn, einschließlich der Unterschiede in der Art und Weise, wie Menschen Informationen verarbeiten und mit ihrer Umwelt interagieren, legen nahe, dass diese Vielfalt von der Natur bzw. der Evolution gewollt und absolut sinnvoll ist. Vielfalt und Abweichung von der Norm ist ein Konzept in der Biologie, das unser «Überleben» sichert. In Grenzsituationen überleben vor allem die Abweichler und Extreme und nicht die stochastische Mitte.

Statischtische Grundlagen

«Normal» und «extrem» sind also nur zwei Begriffe, die sich auf die statistische Verteilung eines Phänomens beziehen, nämlich dass jeder Mensch, jeder Anwender, Kunde, Nutzer anders ist. Das Verhalten oder die Eigenschaften, die sich im Mittelfeld befinden, werden allgemein als «normal» bezeichnet, das Verhalten oder die Eigenschaften, die sich an den Rändern befinden, als «extrem». Sie sagen aber nichts über deren Häufigkeit aus, weder relativ noch absolut.

Gausssche Normalverteilung

Bei der «Gaußschen Normalverteilung» bildet sich zwar eine Glocke um den Mittelwert (siehe Abbildung oben), jedoch befindet sich auch rechts und links davon ein grosser Anteil abweichender Werte, die in Sinne der Inklusion oder einer umfassenden Lösung eine grosse Rolle spielen.

Zudem sind nicht alle Verteilungen so aufgebaut (siehe nachfolgende Abbildung). Häufig liegen auch sogenannte bi- oder multimodale Verteilungen vor, die zwei oder mehr Glocken aufweisen. Deren Mittelwert liegt in diesen Fällen ausserhalb der Glocken und repräsentiert nicht die Mehrheit.

 

Bimodale Verteilung

Der Durchschnitts- oder Mittelwert sagt nichts über die tatsächliche Häufigkeitsverteilung auf.

 

Daher hat sich das Konzept «Designing for the Extremes» etabliert, das Teil der an der d.school der Stanford University entwickelten Design-Thinking-Methodik ist. Dieses Prinzip betont die ökonomische Bedeutung, Produkte und Dienstleistungen auch für extreme Nutzer oder Nutzungsszenarien zu gestalten. Indem Unternehmen ihren Fokus überwiegend auf „durchschnittliche" Anwender oder Kunden legen, verschenken sie erhebliche Marktpotenziale und lassen wertvolle Umsatzchancen ungenutzt.

Wie der sehr bekannte «Click-Away Pound Report 2019» zeigt, verlassen 69% der Nutzer mit Behinderungen Websites, die für sie schwer zugänglich sind und suchen diese dauerhaft nicht wieder auf. Dies führt zu Umsatzeinbußen von £17,1 Milliarden jährlich für britische Einzelhändler.

Universal Design

Diese Erkenntnisse und vor allem die Motivation möglichst keine Menschen von einer Lösung auszuschliessen, veranlasste in den 1980er Jahren eine Gruppe von Designern und Architekten an der North Carolina State University, einen möglichst umfassenden Gestaltungsansatz zu entwickeln, den sie «Universal Design» nannten. Dieser besteht aus 7 Prinzipien und zielt darauf ab, Produkte, Dienstleistungen und Umgebungen so zu gestalten, dass sie von möglichst vielen Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Fähigkeiten oder kulturellem Hintergrund genutzt werden können.

Dabei geht Universal Design über die reine Barrierefreiheit hinaus, indem es die Vielfalt der Nutzerbedürfnisse von Anfang an berücksichtigt und Produkte schaffen möchte, die auch für seltene oder vom Durchschnitt abweichende Nutzungen geeignet sind.

Einfluss auf die User Experience

stark

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